Die Aussenseiterkunst «Art Brut»

 

Bekannt wurde die Kunstform in der Schweiz vor allem durch Dr. Morgenthaler, der die Arbeiten seines Patienten Adolf Wölfli genau dokumentierte. Er veröffentlichte 1921 dessen Krankheitsgeschichte, welche für weltweites Aufsehen sorgte. Wölfi, ein Genie und Geisteskranker – wie man Psychiatriepatienten zu dieser Zeit nannte -, schuf während seinen Klinikaufenthalten zahlreiche Kunstwerke und gilt als vielfältig versiert: er zeichnete, schrieb und komponierte.

Etwa zur gleichen Zeit begann Hans Prinzhorn die archivierten Werke von Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg zu betreuen und publizierte 1922 ein Buch darüber mit dem Titel «Bildnerei der Geisteskranken». Die Publikation wagte erstmals den Versuch einer Analyse dieser neuen Kunstform und beeindruckte sowohl die Kunstwelt wie auch Psychologinnen und Psychologen.

Wer in der kurzen Geschichte dieser Kunstrichtung nicht fehlen darf, ist Jean Dubuffet. Gemeinsam mit weiteren Künstler/-innen, etwa dem Surrealisten und Dichter Andre Breton, gründete er 1948 die «Compagnie de l'Art Brut» und bemühte sich, Werke von extremer Individualität und Erfindungsreichtum von Schöpfern zu sammeln, die nicht nur unausgebildete Künstler/-innen waren, sondern oft kaum eine Vorstellung von einer Kunstgalerie oder gar von anderen Kunstformen als ihrer eigenen hatten.

Er war es auch, der den Begriff der «Art Brut» - also der rohen, echten und authentischen Kunst – prägte. Dubuffet bezeichnete die Kunstrichtung als anti-intellektuelle Kunst. Das Schaffen der Künstler-/innen war nach ihm weder durch eine künstlerische Vorbildung noch durch ihre kulturellen, zeitgenössischen Peers beeinflusst.

Heute werden unter der Kunstrichtung «Art Brut» jene Werke verstanden, welche von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung oder Behinderung geschaffen wurden. Dass das Interesse an dieser Kunstform stetig steigt, zeigt auch die Entwicklung der Namensgebung. Sowohl in verschiedenen Ländern wie auch in verschiedenen Kontexten sind mehrere Bezeichnungen entstanden, welche jeweils ihre eigenen Bedeutungsnuancen haben.

 

Art Brut

Dieser Begriff stammte von Jean Dubuffet und fokussierte auf das rohe, unbeeinflusste, freie – und daher authentischste – Schaffen von Kunst. Der Prozess des Kreierens ist weder durch eine Kunstausbildung noch durch das Kennen der zeitgenössischen Kunst geformt. Die Kunst entspringt sozusagen direkt der «Seele» des Schaffenden.

 

Einige Kunstschaffende in diesem Bereich würden sich nicht als Künstler/-in betiteln und ihr Werke nicht einmal als Kunst bezeichnen. Für sie ist es einfach Ausdruck ihres bewussten und unbewussten Innenlebens . Sie malen auf eine unverblümte, nicht an vorgefassten Formen und Äusserungen sich orientierende Weise und drücken damit ihre Emotionen aus.

In der heutigen Zeit verwendet man den Begriff «Art Brut» etwas umfassender und meint oftmals Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung oder Menschen, die mit einer Beeinträchtigung leben. Viele davon sehen sich durchaus als Kunstschaffende und präsentieren ihre Werke stolz an Ausstellungen.

Im Englischen verwendet man oft die Übersetzung «raw art».

 

Aussenseiter-Kunst / Outsider-Art

Das erste Mal eingeführt wurde der Name im Buch von Roger Cardinal, 1972. Er sollte zu Beginn das englische Synonym zu «Art Brut» darstellen, war aber schon damals etwas inklusiver und meinte auch Werke, die sonst nicht «Art Brut» zugeordnet würden. Über die Zeit hat sich die Verwendung weiter verändert und fokussiert heute eher etwas auf das Fehlen einer künstlerischen Ausbildung und den gesellschaftlichen Status - etwa auf Angehörige von Randgruppen und anderen sozial ausgeschlossenen Kunstschaffenden.

Im Englischen wie auch im Deutschen verwendet man oft die Übersetzung «Outsider-Art».

 

Neuve Invention

In diese Kategorie fiel zu Beginn vor allem Kunst, die nicht in Dubuffets strikte Definition von «Art Brut» passte, die aber ähnliche Qualitäten aufwies. Kunst, die von Menschen geschaffen wurde, die einen grösseren Bezug zur Gesellschaft hatten und die sich ihres Schaffens durchaus bewusst waren. Einige davon hatten Beziehungen zu Kunstgalerien, andere hatten zwar keine Kunstausbildung, lebten jedoch von ihrer Kunst. Je mehr sich aber die verschiedenen Begriffe zu vermischen begannen, desto mehr verlor die Bezeichnung «Neuve Invention» an Bedeutung.

 

Marginal Art / Art Singulier

Diese Begriffe finden vor allem in Europa Verwendung und bezieht sich auf Kunstschaffende, die meistens Autodidakten sind. Ihre Werke stehen sowohl vom Erscheinungsbild wie auch von der Direktheit ihres Ausdrucks den Kunstformen «Art Brut» und «Aussenseiter-Kunst» nahe, entsprechen jedoch nicht gänzlich den Kriterien – ähnlich Dubuffets Kategorie «Neuve Invention».

 

Naïve Kunst

Als naive Kunst bezeichnet man das Schaffen von Künstlerinnen und Künstler, die keine Kunstausbildung haben, aber meist ausgezeichnete technische Fähigkeiten mit sich bringen. Dubuffet verglich Kunstschaffende dieser Richtung mit dem «Sonntags-Maler», der die Kunsttradition bewundert und dessen Werke stark davon geprägt sind, der aber durch seine fehlende Ausbildung nie wirklich über das Kopieren seiner Vorbilder hinauskommt.

 

Folk Art

Der heute vor allem in Nordamerika verwendete Begriff sammelt Kunstwerke von Randgruppen. Ursprünglich für die einfache Kunst der bäuerlichen Gemeinschaften aus Europa genutzt, umfasst er heute - von Gegenständen aus der Kolonialzeit bis hin zur zeitgenössischen, praktischen Handwerkskunst – Werke von Kunstschaffenden, die auch in die Kategorie «Aussenseiter-Kunst» passen würden.

Was alle diese Kunstrichtungen und Begriffsdefinitionen miteinander verbindet, ist der Abstand zur akademischen Kunstwelt. In jüngster Zeit kam aber auch eine gewisse Kritik an diesem auf: Dass die Kategorisierung den Aussenseiter-Aspekt noch verstärken würde. Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung und Beeinträchtigung erfuhren sonst schon viel Ausgrenzung, damit würde ihnen auch die Zugehörigkeit zur allgemeinen Kunst-Szene verwehrt.

 

Die zunehmende gesellschaftliche Inklusion heute, die eben genannte Ausgrenzung nicht mehr duldet, könnte dem «Art Brut»-Begriff wirkliche Schwierigkeiten bereiten. Genauso der steigende Informationsfluss und die stetig wachsende visuelle Berieselung durch Social Media, Werbung und Ähnlichem. Denn dadurch bilden sich Kunstschaffende automatisch ein gewisses Kunstverständnis oder sind zumindest nicht mehr gänzlich unberührt davon. Ist das vielleicht das Ende von Art Brut?

 

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Quellen: